I. Strukturelemente des modernen Imperialismus (S. 22)
Expansion der Wissenschaft
Im folgenden werden Gedankenkreise und Problemfelder skizziert, die, jeweils für sich gesehen, im 19. Jahrhundert noch kein expansives Bewußtsein erzeugten. Erst in ihrer Kombination fügten sie sich zu Strukturelementen eines imperialistischen Denkstils, der eine ganze Epoche prägte.
Es soll deutlich werden, wie wenig aggressiv etwa die Ausweitung der modernen Wissenschaften zunächst gewesen war, für die stellvertretend ein berühmtes Bruderpaar stehen soll: Im Dezember 1813, sieben Jahre nach der deutschen Niederlage gegen Napoleon, blickte Wilhelm von Humboldt auf den Wiederaufbau des preußischen Staates zurück:
«Deutschland muß frei und stark seyn [. . .], weil nur eine auch nach außen hin starke Nation den Geist in sich bewahrt, aus dem auch alle Segnungen im Innern strömen, es muß frei und stark seyn, um das, auch wenn es nie einer Prüfung ausgesetzt würde, nothwendige Selbstgefühl zu nähren, seiner Nationalentwicklung ruhig und ungestört nachzugehen und die wohlthätige Stelle, die es in der Mitte der europäischen Nationen für dieselben einnimmt, dauernd behaupten zu können.»
Expansionistisch war dieser Gedanke Humboldts nicht gedacht, im Gegenteil. Eine aktive Außenpolitik Deutschlands hielt der preußische Kultusminister sogar für ein nationales Unglück. Einmal in die internationalen Verwicklungen geraten, könnte niemand verhindern, daß nicht «Deutschland auch ein Erobererstaat würde, was kein echter Deutscher wollen» könne.
Damit war eine verbreitete Position der politischen Zurückhaltung beschrieben. Humboldt hatte 1810 die Berliner Universität und zugleich das Institut des neuhumanistischen Gymnasiums mitbegründet. Damit waren nicht nur wesentliche Institutionen etabliert, aus denen sich im 19. Jahrhundert deutsches Selbstgefühl speiste.
Humboldts Sprachstudien der späteren Jahre repräsentierten zugleich einen der Zugriffe, mit denen Deutschland im Verlaufe des 19. Jahrhunderts begann, sich die Welt kulturell anzueignen und die Nation Deutschland historisch zu verwurzeln. Die nach außen gekehrte Variante desselben Impulses vertrat sein Bruder, Alexander von Humboldt.
Der Naturforscher und Kosmopolit wurde zum berühmtesten deutschen Gelehrten seiner Zeit. Seine bekannteste Forschungsreise führte ihn von 1799 bis 1803 nach Süd- und Mittelamerika, später bereiste er auch Rußland. Viele Jahre widmete er der Auswertung seiner Studien, die zwischen 1845 und 1858 unter dem Titel «Kosmos» zusammengefaßte Quintessenz repräsentierte den ganzheitlichen Charakter der modernen Wissenschaften.
Der polyglotte Humboldt bewies, daß man national gesonnen, in der Praxis aber dennoch international sein konnte. Dies wurde auch universell anerkannt: Noch heute tragen zahlreiche Minerale, Tiere, Fossilien und Pflanzen seinen Namen. Ortschaften, Berge, Flüsse, Gletscher, Straßen und Meeresströmungen, aber auch Stiftungen, Vereine, Schulen und Apotheken in aller Welt berufen sich bis in die Gegenwart auf seinen Namen.
Für die Weltaneignung der Deutschen im Zeitalter von Nationalismus und Imperialismus gewannen die modernen Wissenschaften zunehmende Bedeutung. Der seit der Aufklärung genährte Ehrgeiz einer Totalerfassung der diesseitigen Welt trieb europäische Forscher und Entdeckungsreisende in die letzten unbekannten Gebiete.
Gelehrte Reisebeschreibungen bemühten sich um eine exakte Inventarisierung der eigenen und fremden Lebensräume und schufen damit zugleich eine praxisnahe Voraussetzung für erfolgreiches bürgerliches Wirtschaften. Die Ergebnisse von Forschung und technischer Entwicklung machten die Unternehmungen immer risikoärmer und kostengünstiger. Die europäische Wissenschaft war ein «universelles» Projekt und zielte auf ein umfassendes Verständnis der Welt, zugleich aber auch auf ihre umfassende Kontrolle.
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