Was ist das: Frieden? (S. 199-200)
Wenn kein Krieg mehr war, mußte jetzt Frieden sein. Ein Frieden, von dem nicht nur ich, sondern auch viele annähernd Gleichaltrige keine Vorstellung mehr hatten. In unserer Erinnerung war eigentlich immer Krieg gewesen. Die sechs Jahre, die er gedauert hatte, waren für diejenigen von uns, die in dieser Zeit den entscheidenden Sprung von der Kindheit über die Pubertät bis zum frühen Erwachsenenalter zurückgelegt hatten, eine halbe Ewigkeit. Man rechnet anders in diesem Alter, weil einen das sich immer schneller drehende Zeitrad noch nicht eingeholt hat.
Die später immer rascher vergehenden Jahre dehnen sich noch endlos, aufnahmebereit für eine überwältigende Anzahl neuer Erlebnisse, Eindrücke und Erfahrungen. Diese Jahre waren bei uns so stark und nachhaltig durch den Krieg geprägt, daß uns die Zeit davor, die Friedensjahre, je länger der Krieg dauerte, fast wie eine Fata Morgana erschienen, von der eigentlich nicht sicher war, daß es sie jemals gegeben hatte.
Wenn nicht die Eltern, die Erwachsenen immer wieder darüber gesprochen hätten, wenn nicht sorgfältig in Familienalben eingeklebte Fotos, und im Laufe der Jahre schrumpfende Vorräte an Hausrat, Schuhen, Wäsche und Konserven im Keller Zeugnis davon abgelegt hätten, daß es mal bessere, fröhlichere Zeiten gegeben hatte, wir Jungen hätten es vergessen können. In unserem Leben spielte der Frieden, von dem die Alten immer häufiger sprachen, je länger der Krieg andauerte, schon lange keine Rolle mehr.
Was war das überhaupt, wie sollte das aussehen, dieser Frieden, im Genick die alliierten Siegermächte und im Ohr den immer schriller werdenden Rachechor, als ein deutsches Verbrechen nach dem anderen bekannt wurde? Wer würde das Kommando übernehmen? Unser Denken bewegte sich natürlich noch längere Zeit in den alten Vorstel- lungen. Von den später Geborenen kann sich keiner mehr ein Bild davon machen, mit welcher Intensität diese Diskussionen unter den Kriegsgefangenen geführt wurden. Wer 1933 schon einigermaßen als Erwachsener gelten konnte, und das waren nicht viele von uns, weil diese Jahrgänge im Krieg völlig ausgeblutet waren, der hatte noch eine halbwegs zutreffende Vorstellung vom Funktionieren der Weimarer Republik.
Aber das war genau der Zeitabschnitt, den man uns Jungen als verabscheuungswürdige, dekadente und verjudete »Systemzeit« geschildert hatte, geprägt von den Arbeiterverrätern der SPD-Bonzen, mordgierigen Kommunisten, 32 politischen Parteien und Regierungen, die korrupt und feige gewesen seien und das Vaterland verraten hätten. Erst der Führer und die tapfere SA hätten mit ihrem Schlachtruf: »Deutschland erwache!« in jahrelangen Straßenkämpfen Rot-Front niedergekämpft, Deutschland von dem ganzen Gesindel befreit, 1933 die Macht übernommen und Großdeutschland geschaffen. Wir sprachen kaum über den Krieg, der uns noch zu sehr in den Knochen lag. Es gab Fragen über Fragen und viel zu wenig Anworten. Inzwischen war das Lazarett aus dem Gymnasium in eine Volksschule neben dem Göttinger Stadttheater verlegt worden.
Ich lag, zusammen mit knapp 100 anderen, in einem Riesenraum, der früheren Aula, die mit Stockbetten vollgestellt worden war. Die Geräuschkulisse dieser Massenunterkunft war beeindruckend. Aber gegenüber den meisten anderen Flüchtlingen waren wir sogar privilegiert. Jeder hatte ein Bett und Wolldecken, wir hatten ein Dach über dem Kopf, und wir bekamen immerhin so viel zu essen, daß keiner von uns verhungerte. Aber gehungert habe ich in diesem Sommer und Herbst 1945 wie weder vor noch nachher in meinem Leben. Nachdem wir von den Amerikanern, in deren Gefangenschaft wir im April geraten waren, an die Engländer überstellt worden waren, schmolzen unsere Essensrationen wie Schnee in der Sonne. Für je 20 Soldaten gab es ein – in Worten: ein – Kommißbrot.
|